Russkij Regensburg. Die russischsprachige Bevölkerung Regensburgs

Publikationsprojekt

Das Statistische Jahrbuch der Stadt Regensburg für 2018 zählt zwar nur 721 Personen mit russischer Staatsangehörigkeit, doch tatsächlich umfasst das russische Regensburg mehr als 10.000 Menschen. Dazu gehören neben Russen im engeren Sinne auch Russlanddeutsche, jüdische Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion und andere, die sich in ihrem Alltag zumindest teilweise des Russischen bedienen. Die Mehrzahl der Russischsprachigen besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft und taucht daher in Ausländerstatistiken nicht auf. Manche von ihnen haben sich organisiert, etwa in Kulturvereinen, Landsmannschaften, religiösen Gemeinschaften, wogegen andere die Verbindung zu ihren Herkunftsgebieten oder -kulturen eher informell pflegen beziehungsweise sich – bewusst oder unbewusst – recht zügig in die Mehrheitsgesellschaft assimilieren.

Als Ger Duijzings und Klaus Buchenau sich 2018 überlegten, für den Regensburger Masterstudiengang ‚Geschichte – Europäische Gesellschaften im Wandel‘ einen Projektkurs mit dem Namen ‚Russkij Regensburg‘ anzubieten, wollten wir eine in der Stadtgesellschaft nur wenig sichtbare Gruppe sichtbar machen und dafür sorgen, dass unsere Studierenden sich mit deren Leben, ihren Erfahrungen und Erinnerungen bekannt machen. Dass vieles davon traumatisch sein würde, wie etwa die oben angedeuteten Erfahrungen von Umsiedelung, Vertreibung und Zusammenbruch, wussten wir. Und dies umso mehr, als wir unter ‚Russkij Regensburg‘ nicht nur die ethnischen Russen in dieser Stadt, sondern grundsätzlich Menschen mit Russisch als Erstsprache meinten. Darunter sind außer Russen nicht nur Russlanddeutsche, sondern auch russische Juden und Angehörige vieler weiterer Nationen der ehemaligen Sowjetunion, die mit Russisch als wichtigster Verkehrssprache aufwuchsen.

In einem Projektkurs geht es – der Name sagt es schon – um ein Projekt, um ein greifbares, eventuell direkt materielles Ergebnis, das man auch außerhalb der Universität vorzeigt. Projekte sollen eine Brücke zur Praxis schlagen, sollen die Fähigkeit trainieren, wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden so umzusetzen, dass auch Nicht-Eingeweihte sich dafür interessieren und sie verstehen. Unsere Idee war, Master-Studierende zunächst einmal in Geschichte und Gegenwart der Russischsprachigen in Regensburg einzuführen und ihnen dann mögliche Themen zur eigenen Bearbeitung vorzuschlagen. Nicht zuletzt wollten wir sie auch mit dem methodischen Rüstzeug ausstatten, ohne das keine Wissenschaft auskommt und das sie für ihre konkreten Vorhaben benötigen würden. Im Projektkurs wollten wir das ‚russische Regensburg‘ näher kennenlernen und verstehen, indem wir nicht nur darüber lesen – was übrigens ziemlich illusorisch wäre, da es fast keine Literatur gibt[1] ­– sondern die Vertreterinnen und Vertreter dieser versteckten Minderheit (die eventuell nur von außen als ‚Gruppe‘ erscheint) kennenlernen und mit ihnen sprechen. Die Absicht war mehr über ihre Biographien, ihre Erinnerungen über das Leben in der Herkunftsregion, ihre Migrationsgeschichte und nicht zuletzt über ihre Wertvorstellungen zu erfahren. Wir übten uns in verschiedenen Recherchetechniken wie teilnehmende Beobachtung, ethnografische Stadtforschung, Oral History, und Interviewführung. Ein Teil der Studierenden nahm gleichzeitig, im Sommersemester 2019, auch an dem von Ger Duijzings angebotenen Masterseminar ‚Oral History: Eine methodologische und theoretische Einführung‘ teil. Hier lernten sie, auf wissenschaftlich verantwortliche und ethische Weise, mit Oral History-Interviews umzugehen. Dieser Kurs wird im Wintersemester 2020/21 erneut angeboten.

Für uns war es der erste Kurs dieser Art, und natürlich blieben Überraschungen nicht aus. Dazu gehörte – wie Klaus Buchenau als Historiker zerknirscht zugeben muss –, dass sich die Studierenden eigentlich nur für solche Themenvorschläge interessierten, die nicht ins Archiv, sondern in die direkte Begegnung mit Menschen führten. Dennoch wurden auch die weiter zurückreichenden historischen Wurzeln der Russlanddeutschen nicht ganz vergessen. Wir luden die russlanddeutsche Historikerin Olga Litzenberger ein, um unsere Studierenden mit den wichtigsten (bekannten und unbekannten) russlandbezogenen Erinnerungsorten in der Stadt vertraut zu machen, etwa mit der kleinen Gedenktafel für die Schwabenzüge in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das am Donauufer neben der Eiserne Brücke angebracht ist, von wo aus die deutsche Kolonisten nach Südost- und Osteuropa zogen.

Es stellte sich heraus, dass nicht wenige Studierende im Laufe der Zeit ihre ganz eigenen Projektideen erarbeiteten, die in unserer Vorschlagsliste gar nicht vorgekommen waren. Eine entscheidende Rolle hierbei spielten erste Orientierungen ‚im Feld‘, die schnell zeigten, wo das russischsprachige Regensburg besonders viele und interessante Ansprechpartner zu bieten hat. Die lebhafte und gut organisierte jüdische Gemeinde, in der vor allem Russisch gesprochen wird, entwickelte sich für unser Projekt zu einem regelrechten Knotenpunkt. Ein anderer wichtiger Anlaufpunkt wurde die Russische Orthodoxe Kirchengemeinde im Stadtpark, deren Priester unsere Seminargruppe persönlich empfing und ebenso liebevoll wie geduldig auf unsere Fragen einging. Auch unter den Russlanddeutschen fanden sich nicht wenige Ansprechpartner. Ein Student ging einen eigenen Weg und widmete sich den russischen Geschäften und der nostalgischen Esskultur; ein weiterer, das sei hier nicht verschwiegen, scheiterte letztlich an seinen eigenen Ansprüchen – er wollte über Tschetschenen in Regensburg schreiben, fand aber keine Ansprechpartner, so dass Muslime, die es unter den Russischsprachigen Regensburgs auch gibt (zum Beispiel Usbeken und Tataren), in diesem Band leider nicht vertreten sind.

Was ist also, aus der Sicht der Herausgeber, aus unserem Projekt geworden? Insgesamt sind wir zufrieden, denn dieser Band ist nicht nur das erste Werk zu den Russischsprachigen in Regensburg. Vergleichbares gibt es, wenn überhaupt, nur zu größeren Städten wie Berlin oder München. Zufrieden sein können wir auch damit, dass die hier versammelten Studien aus frischem Material erarbeitet worden sind – man sieht den meisten von ihnen an, dass der Niederschrift direkter Kontakt, lange Gespräche und sorgfältig dokumentierte Beobachtungen vorausgegangen sind.

Im Nachhinein, soviel ist sicher, weiß man immer, was man noch besser hätte machen können. Ex post ist uns Herausgebern klar, dass eine Gruppe Studierender, die auf der Suche nach Kontakten mehr oder weniger ungesteuert ins russischsprachige Regensburg ausströmt, mit großer Wahrscheinlich zunächst auf Menschen trifft, die auch mit ihnen reden wollen. Diese ‚Willigen‘ bilden das russischsprachige Regensburg keineswegs repräsentativ ab, vielmehr handelt es sich in der Tendenz wohl um eine Auswahl besonders offener Menschen. Offenheit kommt nicht selten daher, dass jemand mit seinem Leben zufrieden ist, und nicht selten haben diese offenen Menschen auch eine bestimmte gesellschaftliche Position, die sie ohne diese Offenheit nicht ausfüllen könnten. Mit anderen Worten – überdurchschnittlich häufig sind unsere Studierenden bei ihrer Feldforschung an sogenannte Sprachrohre oder Multiplikatoren gelangt, weniger häufig dagegen an die ‚Unauffälligen‘, die ‚Scheuen‘. In Regensburgs Industriebetrieben gibt es nicht wenige Russischsprachige, die für die Stadtgesellschaft weitgehend unsichtbar bleiben, weil sie immer in der Nachtschicht arbeiten (zum Beispiel bei Continental) und tagsüber schlafen. Wer so lebt, kommt kaum in Verlegenheit, sich morgens um 10 Uhr mit unseren (hoffentlich ausgeschlafenen) Studierenden zum Interview zu treffen. Diese Menschen haben oft keine Lobby, keine Institutionen, die sie als ‚eigene‘ bezeichnen könnten, und wir können auch nicht sicher sein, inwieweit sie sich dem russischsprachigen Regensburg oder einer der ethnischen Gruppen desselben überhaupt zugehörig fühlen. Das russischsprachige Regensburg bleibt daher, auch für uns Dozenten, nach wie vor eine teils unbekannte Welt. Der vorliegende Band ist ein erster Schritt, diese zu verstehen; weitere sollten folgen.


[1] Eine Ausnahme ist ein kleines Heft mit dem Titel ‚Heimat?‘, 2017 herausgegeben durch das Europaeum – das Ost-West-Zentrum der Universität Regensburg. Es betrifft die Jahresgabe 2017, in dem vier von der Bachelor-Absolventin der Regensburger Slavistik Evgeniya Maevski ausgeführte Interviews mit in Regensburg ansässigen Russlanddeutschen und Russen abgedruckt sind. Zu erwähnen ist auch eine Online-Publikation des Jüdischen Museums Berlin, in der einige Portraits von jüdischen Einwohnern Regensburgs aus der ehemaligen Sowjetunion präsentiert werden: Gromova, Alina / Lewinsky, Tamar / Ziehe, Theresia: Objekttage. Erinnerungsstücke und Migrationsgeschichten – Porträts in Deutschland lebender Jüdinnen*Juden. 2018. URL: www.jmberlin.de/node/5528 (letzter Zugriff: 30. Mai 2020). 2008 erschien ein Sammelband über Regensburgs Religionsgemeinschaften, mit jeweils einem Beitrag über die russisch-orthodoxe und die jüdische Gemeinde: Rosenstein, Gustav (Hrsg.): Offene Türen. Regensburger Religionsgemeinschaften stellen sich vor. Wenzenbach: Schwedhelm, 2008.